Offizier und Gentleman (1)

Wolf Justin Hartmann in den Weltkriegen 1914–1918, 1939–1945

Von Michael Heinz

Wolf Justin Hartmann im Jahre 1914, kurz bevor er sich als Abiturient des Wilhelmsgymnasiums in München als Kriegsfreiwilliger meldete.
Abiturient Wolf Justin 1914

In einer Zeit, in der vielerorten Denkmäler für Deserteure errichtet werden, über einen Dichter zu schreiben, der eine gute Zeit seines Lebens als Soldat und Offizier in zwei Weltkriegen verbracht hat, ist sicher nicht jeder­manns Sache. Und doch bekenne ich, dass es mir Freude bereitet hat, sein Leben in dieser Zeit zu beleuchten, denn es zeugt für mich von einem beispielhaften Patrio­tismus, der tragi­scher­weise durch die schändlichen Taten des 1945 untergegangenen Regimes bei Millionen von Deutschen missbraucht worden ist.

Vergessen werden aber soll auch nicht: Keine Generation sucht sich ihr Schicksal, ihre Kriege aus, sondern wird hineingestellt in die Geschichte, sie zu erleben und zu bestehen.

In Deutschland, nach zwei verlorenen Weltkriegen und Millionen von Opfern, will sich die Gesellschaft – durch den Krieg in Afghanistan und neue Bedrohungen dazu gezwungen –, nur sehr zaghaft wieder an verdrängte soldatische Tugenden wie Tapferkeit und Kameradschaft erinnern. Und während einige in Deutschland Gefallenendenkmäler mit hasserfülltem Graffiti beschmutzen, wäre einer wie Wolf Justin Hartmann in der Erinnerung wohl jedes anderen Volkes ein geachteter Veteran.

*

Wolf Justin Hartmann ist zweimal in seinem Leben freiwillig für sein Land in den Krieg gezogen, eine Entscheidung, die Achtung und Respekt verdient, und am allerwenigsten wohlfeile Deutungen bundesdeutscher Menschen, denen der geschichtliche Zufall bisher eine Zeit des Friedens und des Wohlstandes im demokratischen Gemeinwesen geschenkt hat.

Ich beginne daher meinen Aufsatz mit einem Auszug eines Briefes, den Wolf Justin Hartmanns Freund, der Offizier und Schriftsteller Friedrich Wilhelm Heinz, 1953 an Theodor Blank, dem späteren ersten Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland, geschrieben hatte:

„Abschließend darf ich bemerken, dass mein Hauptfehler wohl darin bestand, eine Kommentierung meines Lebens und meiner Vergangenheit auch nur zugelassen zu haben. Das Leben eines aktiven und politischen Mannes in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ist, wenn es sinnvoll war, ein buntes und vielgestaltiges Mosaikwerk. Das Herausbrechen von grünen, roten, blauen oder goldenen Steinen aus dem Gesamtbild und das philisterhafte Vorzeigen dieser Einzelsteinchen ist meistens dumm, oftmals perfide, und es besagt für das menschliche Sein nicht das Mindeste. Nur aus Spannungen erwächst Leben, und nur aus der Vielfalt der Gegensätze erblüht die Harmonie.

Auch das Leben von Wolf Justin Hartmann spiegelt ein solches Mosaik wider. Daher will ich mich an diese Zeilen halten und nicht kommentieren, wo es nichts zu kommentieren, sondern lediglich zu berichten gibt vom Soldaten Wolf Justin Hartmann in der Zeit von 1914 bis 1919 und von 1940 bis 1945.

Meine persönliche Erinnerung an Wolf Justin Hartmann geht zurück bis ins Jahr 1952. Allerdings ist sie nicht mit einem Gesicht, sondern mit einem Spielzeug verbunden.

Ich war damals vier Jahre alt und wohnte mit meinen Eltern und meiner Schwester in der Wiesbadener Bahnhofstraße 61. Es war die Zeit, in der man allenthalben noch die Ruinen von ausgebombten Häusern sah. Aber auch Männer, denen Gliedmaßen fehlten, manchmal ein Arm oder ein Bein. Oder sie waren so verstümmelt, dass es zum Gehen nicht mehr reichte und sie stattdessen auf hölzernen Plattformen, an die Kinderwagenräder angeschraubt waren, durch die Straßen rollten, um an einer Ecke auf eine Spende zu warten.

Viele dieser durch Verwundungen Gezeichnete verkauften, ich erinnere mich, in der Innenstadt die Bild-Zeitung für damals noch zehn Pfennige.

Wenn ich mit meiner Großmutter zum gegenüberliegenden Spielplatz in den Reisinger Anlagen ging, geschah das, ohne dass einer von uns vor dem Überqueren der an sich ziemlich breiten Bahnhofstraße nach rechts oder links blicken musste. Der Verkehr hielt sich nämlich damals noch sehr in Grenzen. VW-Käfer mit geteiltem Rückfenster brummten vor sich hin, auch dreirädrige Tempo-Lieferwagen und die LKWs der in Wiesbaden stationierten amerikanischen Besatzung, die von mir, aus heute unerfindlichen Gründen, den Namen „Radenser“ erhielten.

Fernsehen und Radio gab es wohl schon, für uns Kinder natürlich nur sehr eingeschränkt. Dafür kamen manchmal Musikanten mit Drehorgeln. Die sangen dann in den Hinterhöfen und bekamen zur Belohnung ein oder zwei in Papier eingewickelte Pfennige zugeworfen. Wenn ich werfen durfte, versuchte ich natürlich auch zu treffen.

Es war, vor allem für uns Kinder, eine Internet- und Handylose, eine ruhige Zeit!

Besuch kam häufiger in die Bahnhofstraße, ohne dass ich allerdings involviert war. Erst viel später erfuhr ich, dass unsere Wohnung eine Nebenadresse des Friedrich-Wilhelm-Heinz-Dienstes gewesen war, dem Vorläufer des Militärischen Abschirmdienstes.

Wolf Justin Hartmann im Herbst 1964 bei Friedrich Wilhelm Heinz (rechts). In der Mitte mit auf dem Bild der Sänger Joseph „Jupp“ Speltmann.
Zu Gast bei Familie Heinz

Nein, wenn „Besucher“ kamen, ging Oma mit uns ins Kinderzimmer und das war es. Selbst beim besten Willen fehlt mir hier jegliche Erinnerung an Begegnungen.

Doch halt! Eines Tages war Wolf Justin Hartmann zu seinen Freund und Kriegskameraden Friedrich Wilhelm Heinz nach Wiesbaden zu Besuch angereist. Und aus seiner Tasche zog er etwas, was er für den damals Vierjährigen, also für mich, mitgebracht hatte!

Sein Geschenk war eine ungefähr zehn Zentimeter hohe Stoffigur eines bärtigen Kapitäns, auf dessen Kopf eine verwegene Mütze saß und der darüber hinaus auch noch eine imposante Pfeife schmauchte.

Dieser „Seebär“, wie ich den Käpt’n sofort taufte, war für eine gute Zeit meines Lebens ein intensiv genutztes Spielzeug, bis ich versuchte, ihn auf einem Holzdampfer in der Badewanne seinem Beruf entsprechend einzusetzen und er das rund 30 minütige Vollbad zunächst mit starken Auflösungserscheinungen, dann mit seinem stückweisen Ableben quittierte.

Wahrscheinlich habe ich damals eine Stunde lang geheult, wenn es reicht.

Jahre später besuchten wir Wolf Justin Hartmann dann in München. Das war an sich schon eine ganz schöne Reise, denn damals war doch alles anders als heute. Weder telefonierte man dauernd miteinander, noch tauschte man Emails oder SMS aus, am allerwenigsten besuchte man sich, „wenn man in der Nähe“ war. Und gar einen innerdeutschen Flug für 19 Euro? Unvorstellbar!

Nein, Wiesbaden-München war eine halbe Weltreise und anmelden musste man sich vorher auch. Aber ich wusste, dass meine Eltern mit WJH im Kontakt standen, denn immer wieder hörte ich manche schöne Anekdote über den Münchener Schriftsteller.

Eine, die meine Mutter erzählte (Wolf Justin nannte sie „Principessa“), ist mir besonders in Erinnerung geblieben.

Hartmann hatte die Angewohnheit, jede ihm vorgesetzte Speise mit den gemurmelten Worten „Schlecht gewürzt“ durch eine kräftige Schicht Salz zu verzieren, die dann noch mit reichlich Pfeffer überdeckt wurde. Meine Mutter, eine gute Köchin, ärgerte sich jedes Mal grün und blau, wenn Wolf Justin wieder einmal die köstlichsten Gerichte mit den an sich ja langweiligen Gewürzen so stark traktierte, dass sich ein normaler Magen geweigert hätte, solche Speisen länger als 30 Sekunden zu akzeptieren.

Also sann meine Mutter auf Rache. Und als sich Wolf Justin wieder einmal zu Besuch angekündigt hatte, versalzte und verpfefferte sie das Essen derart, dass es schier ungenießbar war.

Jetzt kam die Stunde der Wahrheit. Jeder tat so, als ob alles in bester Ordnung sei und wartete auf die kulinarische Katastrophe.

Wolf Justin nahm den ersten Bissen, den zweiten, der dritte war schon größer, dann sah er freudig in die Runde, blieb bei meiner völlig fassungslosen Mutter hängen und strahlte sie an: „Heute, Principessa, heute schmeckt es mir richtig gut!“

Diese Angewohnheit des überscharfen Würzens, so wurde mir später mitgeteilt, hätte Wolf Justin Hartmann aus der Türkei mitgebracht, in der er, 1915, als Soldat im Ersten Weltkrieg, später auch als Offizier im deutschen Asien-Korps [auch Levante-Korps genannt], eingesetzt war.

Dieses Korps war ein militärischer Großverband, den das Deutsche Reich zunächst 1916 (Pascha I), als auch verstärkt ein Jahr später (Pascha II) zur Unterstützung des Osmanischen Reiches im Vorderen Orient eingesetzt hatte. 1917 kamen zwei österreichische Gebirgsbatterien dazu.

General Erich von Falkenhayn (1861–1922), um 1915. (Bundesarchiv Nr. 183-R09788)
Erich von Falkenhayn

Zu den deutschen Verbänden gehörten unter anderem Infanterie, Maschinengewehrabteilungen, Kavallerie, Pioniere und Flieger, die zunächst unter der Führung des Generals Erich von Falkenhayn [*11. September 1861 Burg Belchau/Westpreußen, † 8. April 1922 Potsdam], zuletzt General Otto Liman von Sanders [*17.2.1855 Stolp/Pommern, 22. August 1922 München] standen.

Wolf Justin Hartmann hatte sich, wie Millionen seiner Alterskameraden, zu Beginn des Ersten Weltkrieges im August 1914, direkt vom humanistischen Münchener Wilhelmsgymnasium, freiwillig zum Militär gemeldet.

Auch für ihn waren die Wochen im Juli 1914 bis zum Kriegsbeginn am 1. August ein bewegendes, inneres Erlebnis, wie es Ernst Jünger in seinem Kriegstagebuch In Stahlgewittern beschreibt:

Wir hatten Hörsäle, Schulbänke und Werktische verlassen und waren in den kurzen Ausbildungswochen zu einem großen, begeisterten Körper zusammengeschmolzen. Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit, fühlten wir alle die Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen Gefahr. Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch. In einem Regen von Blumen waren wir hinausgezogen, in einer trunkenen Stimmung von Rosen und Blut. Der Krieg mußte es uns ja bringen, das Große, Starke, Feierliche. Er schien uns männliche Tat, ein fröhliches Schützengefecht auf blumigen, blutbetauten Wiesen: „Kein schönrer Tod ist auf dieser Welt…“ Ach, nur nicht zu Hause bleiben, nur mitmachen dürfen!

So dachte und fühlte 1914 eine ganze Generation: Arbeiter, Bauern und Angestellte, Studenten und ihre Professoren. Und so dachte auch Wolf Justin Hartmann. Am 14. August wurde er freiwilliger Soldat in der 4. Ersatz-Batterie [Batterie = Artilleriekompanie] des 1. kgl. bay. Feldartillerie-Regimentes „Prinzregent Luitpold“. Zusammen mit dem 7. kgl. bay. Feldartillerie-Regiment „Prinzregent Luitpold“ bildete das 1. Regiment die 1. Kgl. bay. Feldartillerie-Brigade.

Was bei der Feldartillerie auf ihn zukommen würde, konnte der Kriegsfreiwillige Hartmann im Exerzierreglement vom 26. März 1907 nachlesen:

Die Feldartillerie soll durch ihr Feuer die Bahn zum Siege brechen. Hauptsache für sie ist deshalb gutes Schießen, rechtzeitig, vom richtigen Platz, gegen das richtige Ziel.

Nach seiner Grundausbildung und der weitergehenden Ausbildung an der Haubitze 10,5 cm, wird Hartmann, im Februar 1915, zur kaiserlichen deutschen Militärmission im Osmanischen Reich [der späteren Türkei] in Konstantinopel [ab 1930 Istanbul] versetzt. Dort angekommen, tritt er, ebenso wie die anderen dorthin kommandierten deutschen Soldaten, offiziell in die türkischen Streitkräfte über.

Diese Militärmissionen waren in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts auf türkischen Wunsch eingerichtet worden, um die desolaten türkischen Streitkräfte mit deutscher militärischer Hilfe von Grunde auf zu reformieren.

Auf der türkischen Halbinsel Gallipoli, die das Marmarameer von der Bucht von Saros im Trakischen Meer trennt, nimmt Hartmann als deutscher Soldat an den außergewöhnlich harten und blutigen Kämpfen sowohl an den Dardanellen als auch an der Schlacht von Gallipoli teil. Hier standen der 5. türkischen Armee zahlreiche britische, australische, neuseeländische und französische Invasions-Divisionen gegenüber sowie eine starke britische Flotte.

Die für die türkische Armee siegreiche Schlacht von Gallipoli vom 19. Februar 1915 bis zum 9. Januar 1916 war, mit über 130 000 Toten, eine der blutigsten und brutalsten des Ersten Weltkrieges.

Wolf Justin Hartmann Anfang 1916
Anfang 1916

Anfang 1916 kehrt Hartmann zurück nach Deutschland und wird anschließend an die Westfront versetzt. Hier lebt er, inzwischen als Artillerieleutnant, in abgesoffenen Gräben und Trichtern, kämpft gegen Engländer und Franzosen und erlebt das tagelange Trommelfeuer und Gasbeschuss durch schwere Geschütze während der Großkampftage.

In den ersten Monaten des Jahres 1917 folgt eine kurze Versetzung nach Russland an die Ostfront, bis er, im August dieses Jahres, im Zuge der Entsendung des Deutschen Asienkorps, als Artillerieausbilder und Verbindungsoffizier zu einer türkischen Division versetzt, wieder an die Front nach Palästina geht, wo er, im September 1918, in Gefangenschaft gerät.

Die Eindrücke des Krieges haben Hartmann immer wieder eingeholt und zum Schreiben veranlasst. Der Leser kennt sein 1938 zum ersten Male erschienenes Werk Durst, die bewegende Beschreibung eines Wüstenrittes im Ersten Weltkrieg:

Da sind die Wüste, zwei Männer, zwei Pferde, Sonne, Sand, glühende Felsen, eine Wolke, wartende Geier – da ist der Durst, nackt unbarmherzig; zwei junge Offiziere, ein deutscher und ein türkischer stehen vor den ersten und letzten Fragen menschlicher Existenz, mit denen sich jeder auf seine Weise, als abendländischer oder morgenländischer Mensch, auseinandersetzt.

Oder das 1952 erschienene Buch Ein Glanz lag über der Stadt, über das sinnlose Bombardement und die fast vollständige Zerstörung der Stadt Würzburg durch die englische Luftwaffe am 16. März 1945:

Weit über die Weinberge hin war im Land ringsum das brennende Herz von Franken an der Brust des Himmels zu sehen. Eine geballte Wolke stand am Tage über der Stätte, daß die Sonne vergeblich suchte, die Trümmer zu liebkosen.

Unbekannter dagegen ist der 1935 erschiene Erzählband Der Schlangenring mit drei Skizzen aus dem Ersten Weltkrieg, oder sein Weltkriegsdrama von 1932, Stacheldraht, Hartmanns Erlebnis in englischer Gefangenschaft.

Daneben gibt es eine Anzahl von Manuskripten, die sich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigen und die hier auszugsweise, zum ersten Male seit fast 80 Jahren, einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt werden.

Gehen wir jetzt also wieder zurück in das Jahr 1914!

Fortsetzung hier: http://www.hmhensel.com/langemarck-gallipoli-dardanellen/

2 Gedanken zu „Offizier und Gentleman (1)“

  1. Ich komme aus Marktbreit, lebte 30 Jahre dort, bin nun 87 Jahre.

    Vor kurzem kam mir „Ein Glanz lag über der Stadt “ in die Hand. Eine Frage zur Verwandtschaft von WJH:

    Wer war Meta Hartmann, die zu meiner Zeit dort am Schlossplatz mit einer Tochter lebte? Wissen Sie mehr? Ich danke Ihnen schon mal im voraus.

    Eva Spies, geb. Diem.

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